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                        Heilig Abend

Heilig Abend

Der Heilige Abend des Jahres 1991 versprach von seinem äußeren Erscheinungsbild her nicht das, was man gemeinhin erwartet hatte. Die Luft war lau, wie in den ersten Frühlingstagen, der Himmel zeigte sich konturlos, und ein leichter Nieselregen fiel seit den frühen Morgenstunden ununterbrochen aus einem nichtssagenden Grau herab. Die Menschen missachteten einander noch mehr als an gewöhnlichen Tagen und liefen hektisch durch die Straßen und Gassen der alten Stadt, um die letzten erforderlichen Besorgungen zu machen.

Herr Martin hatte sich - wie an jedem Heiligen Abend - gegen halbzehn nach dem Frühstück aufgemacht, um für seine Frau E. das obligatorische Präsent zu kaufen: ein exotisches Stück Seife, das seiner Benutzerin das Jahr über einen schweren Duft nach Mandelholz und Rosenextrakt verlieh. Die Seife wurde von Ihr nur an Sonn- und Feiertagen sowie zu besonders festlichen Anlässen benutzt, nahm übers Jahr ständig an Umfang ab, um nahezu exakt am folgenden Heiligabend noch ein letztes Mal benutzt zu werden. Am ersten Weihnachtstag überließ sie dann ihre Dienste der Nachfolgerin.

M. ließ sich durch die nervöse Hast seiner Mitmenschen nicht aus der Ruhe bringen, ließ sich an den leer gekauften Geschäften entlang treiben, ließ alles an seiner großen weihnachtlichen Ruhe vorbeiziehen. Nachdem er sich eine gute Stunde so hatte treiben lassen, bog er zielstrebig in eine ruhigere Seitenstraße ein, machte noch einen Schlenker nach links und betrat "sein" Cafe, um dort - wie in all den Jahren zuvor - einen Mokka mit Cognac zu trinken, eine dem Tag angemessene gute Zigarre zu rauchen und in angenehmer Atmosphäre die Weihnachtsausgabe der lokalen Tageszeitung zu lesen.

Und wie in jedem Jahr, wenn die Glocke des Kirchturms mit zwölf Schlägen den Mittag verkündigte, erbat er die Rechnung, zahlte und verließ das Café, um in einer nahegelegenen Konditorei das übliche Weihnachtsgebäck zu kaufen. Vom Duft der Spezereien betört, machte er sich sodann gemächlich auf den Weg zu der Drogerie, die in jedem Jahr das von seiner Frau ersehnte kostbare Stück Seife bereithielt.

 Am Ziel angelangt, betrachtete er noch eine Weile die  Auslagen, bestaunte die extravaganten Fläschchen und Accessoires, deren Gestaltung sich Jahr für Jahr weiter von seinem Geschmack entfernte und betrat alsdann in feierlich-gelassener Stimmung den Laden, um sich von dessen Besitzer, Herrn T., die zuvor kunstvoll verpackte Seife aushändigen zu lassen.

Zehn Minuten später stand M. wieder auf der regennassen Straße. Der Wind hatte aufgefrischt; ihn fröstelte. Er schlug den Kragen seines ein wenig aus der Mode gekommenen schweren Mantels hoch, drückte die Krempe des grauen Filzhutes tief herunter, eilte schnellen Schrittes die Straße hinab Richtung Marktplatz, überquerte diesen, stieg in ein Taxi und ließ sich, vor Nässe dampfend, zur weihnachtlich warmen Wohnung befördern.

Der Abend dieses heiligen Tages war gekommen. In den Straßen war es still geworden und gedämpftes Licht in den Wohnungen zauberte auf den schwarzen Häuserfassaden viele gelbe Quadrate hervor. Aus einigen Fenstern drang leise Weihnachtsmusik, und auch die Wohnung von M. wies für die beiden einsamen Spaziergänger eine einladende heimelige Atmosphäre auf.

Die beiden Männer flüsterten leise miteinander, als sie sich der Haustüre näherten. Wer würde es schon wagen, an solch einem Abend den häuslichen Frieden zu stören?

"Guten Abend. Sind sie Herr M.?" Der Hausherr bejahte die Frage, und die beiden Männer stellten sich vor: "Polizeiinspektor S. und das ist mein Assistent Herr K." Herr M. bat die beiden Männer in seine Wohnung und fragte nach dem Grund ihres Erscheinens. "Heute am späten Nachmittag wurde der Drogistenhändler T. in seinem Ladenlokal tot aufgefunden. Nachdem er gegen 15.00 Uhr immer noch nicht zu Hause war, fuhren seine Frau und seine Tochter zum Ladenlokal des T. und fanden diesen erschlagen vor dem Regal mit den Seifenauslagen. Der Inspektor schwieg für einen Moment und  trat dann einen Schritt näher auf M. zu: "Herr M., gegen sie besteht dringender Tatverdacht. Wir müssen Sie bitten, uns auf das Präsidium zu begleiten." "Aber ich bitte sie, meine Herren, was habe ich mit dem Mord an diesem Mann zu tun?" entgegnete M. "Das will ich ihnen erklären", antwortete der Inspektor. "Die Frau des Drogisten hat ausgesagt, dass ihr Mann am frühen Morgen, bevor er ins Geschäft ging, von Ihnen gesprochen habe. Heute komme wieder dieser komische Kauz, so der Drogist, und er nannte dabei ihren Namen. Das ganze Jahr über ließe er sich nicht blicken, nur einmal im Jahr, immer am Heiligen Abend um die gleiche Zeit, verlange er nach einem Stück exotischer Seife für seine Frau, die ihm dann, schon geschenkmäßig verpackt, sofort ausgehändigt werde. Aber an diesem Weihnachtsfest könne er nicht damit dienen, so die Frau des Drogisten mit dessen Worten, die Seifenfirma, ein kleiner Spezialbetrieb, habe Konkurs gemacht und die Seife sei woanders nicht zu beschaffen. Aber so tragisch könne das ja für ihn, also für sie, Herr M. nicht sein, denn seine Frau sei schon vor einigen Jahren verstorben, und somit würde ja niemand die Seife vermissen."

Herr M. war blass geworden. " Ich wusste nicht, dass das dem Drogisten bekannt war. Ja, es stimmt. Meine Frau ist tot. Aber sie lebte durch den Duft der Seife übers Jahr in meiner Erinnerung fort, war mir stets nahe, besonders an den langen einsamen Tagen des Weihnachtsfestes. Als Herr T. mir mitteilte, die Seife sei nicht mehr lieferbar, er könne mir aber etwas anderes als Ersatz anbieten, verlor ich die Beherrschung und erschlug ihn mit einem Parfumzerstäuber aus schwerem Glas."

Herr M. hatte zum Schluss immer leiser gesprochen, so dass seine Worte kaum zu verstehen waren. Aus dem Radio erklang noch immer festliche Weihnachtsmusik, draußen hatte es nun endlich zu schneien begonnen, und die graue, nasskalte Stadt verwandelte sich unter den Klängen der Kirchenglocken ganz langsam in eine Postkartenidylle.

 copyright by Jürgen Spalink

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