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                           Eiszeit

Die letzten Tage, die ich mit M. zusammen verbrachte, hatten mich völlig ausgelaugt. Sie hatte seit einer Woche nicht mehr mit mir gesprochen. Frühstück, Abendbrot, das Zubettgehen wurden zur Qual Sie verbreitete Eiseskälte, und jedes Zusammentreffen mit ihr führte zu verschwitzten Händen und einem ständigen Gefühl der Übelkeit. Die Angst, verlassen zu werden, saß mir ständig im Nacken, nahm nicht nur von meiner Seele, sondern auch von meinem Körper Besitz.

Wo es nur ging, entwich sie meiner Anwesenheit.

Auf Fragen, Bitten, einladende Gespräche antwortete sie in der Regel gar nicht oder nur mit "Wieso?" oder: "Ich wüsste nicht, was es da noch zu besprechen gibt!" Dazu die kühlen Augen, aus denen die zuvor so tief sitzende Liebe gewichen war, Blicke, die mich jetzt nur noch kalt und herablassend trafen, mehr sagend, als jedes Wort, ständig sprechend: "Mit dir bin ich fertig!"

In meiner Verzweiflung hatte ich versucht, sie immer wieder festzuhalten, wenn sie mir ausweichen wollte. Anfangs hatte sie mich zurückgestoßen "Fass mich nicht an", später dann stand sie nur noch da, leblos, wenn ich mit meinen Händen ihre Arme umfasste, immer fester zudrückte, sie schüttelte "Sag doch was, sprich mit mir, sei wieder gut zu mir"; hilfloses, blödes Gestammel, das völlig unwirksam an ihr abprallte.

Wenn ich alleine war, saß ich da, apathisch vor mich hinstarrend. Ich konnte nicht mehr arbeiten, nicht mehr lesen, schreiben, malen oder Musik hören. Ich lief in der Wohnung umher, lief von einem Zimmer in das nächste, stierte nach vorne aus dem Fenster auf die Straße hinunter oder nach hinten hinaus in die kahlen Bäume, die wie Totenmale in der verschneiten Landschaft standen, sich wie Scherenschnitte in den verbrühten Abendhimmel schoben.

Die Welt kennt keine Realitäten, sie stimmt immer nur mit der eigenen inneren Welt überein. Die schönste Naturstimmung wurde in meiner entsetzlichen Hilflosigkeit zur Katastrophenmeldung. Glühende Sonnenuntergänge kündeten von verbrannter Erde, jede Musik im Radio wurde zur Totenmesse. Alles um mich herum sog mein Innerstes auf, zeigte sich feindlich und ablehnend wie sie. Die Umgebung wurde zu einem Spiegelbild meiner Seelenlandschaft.

Eines Tages kam sie von der Arbeit nach Hause, wortlos wie immer, duschte, kramte nach Reisetaschen und Koffern, raffte Kleidungsstücke zusammen, ein paar Bücher. Rauchte zwischendurch hastig Zigaretten.

Ich lief hinter ihr her, bittend, bettelnd um Verzeihung, um Gnade, um Liebe - verlorenes Gerede über zerschlagenes Porzellan, was sich doch wieder kitten ließe mit einer Winzigkeit an gutem Willen.

Vom Weinen zerfratztes Gesicht, nach Atem ringende Worte. Erbärmlich.

Die Tür schlug zu, es wurde totenstill.

copyright by Jürgen Spalink

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